Am 16. Oktober 2024 luden die evangelischen Gemeinden St. Matthäus, St. Stephan und Erlöserkirche zu einer Podiumsdiskussion in die KUFA Bamberg ein, um ein lange tabuisiertes Thema anzugehen: sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche. Anstoß für die Veranstaltung war die kürzlich veröffentlichte ForuM-Studie, die das erschreckende Ausmaß und die strukturellen Voraussetzungen solcher Übergriffe seit den 1940er Jahren aufgedeckt hatte. Doch an diesem Abend ging es nicht nur um die Aufarbeitung vergangener Vergehen. Es ging darum, ein tief verwurzeltes Schweigen zu brechen, das in der Kirche – wie auch in weiten Teilen der Gesellschaft – über Missbrauch geherrscht hat.
Die Kultur des Schweigens und der Macht
„In vielen Gemeinden gibt es eine Kulturtechnik des ‚Vergessen-Machens‘,“ erklärte Sabine Wallner vom Institut für Praxisforschung, aus Frankreich digital zugeschaltet. „Man schweigt so lange über sexualisierte Gewalt, bis sie in Vergessenheit gerät.“ Diese Worte trafen den Kern der Diskussion, die sich um die Frage drehte, wie solche Strukturen aufgebrochen werden können. Besonders alarmierend sei, so Wallner, dass in evangelischen Kreisen eine Idealisierung von Männlichkeit vorherrsche. Bestimmte Männer werden zu charismatischen Figuren hochstilisiert, anschließend werde ihnen zu viel Macht eingeräumt, was sexualisierte Gewalt ermöglicht und verschleiert. „Der macht sowas nicht!“ – ein Satz, der das Schweigen in den Gemeinden oft aufrechterhält und die Täter schützt.
Familiale Strukturen als Deckmantel
Prof. Dr. Regina Fritz von der Evangelischen Hochschule Nürnberg erklärte, dass viele evangelische Gemeinden strukturell wie Familien funktionieren, was Tätern zusätzlichen Schutz biete. „Die eigentlich wichtige Nähe, die Kirche ja auch bieten möchte, kann von Täter missbraucht werden“, ergänzte Pfarrer Walter Neunhoeffer und verwies auf das Problem, dass Gemeinden eigentlich Orte der Geborgenheit sein sollten: „Das offene Pfarrhaus, wo jeder willkommen ist, habe ich als einen Ort erlebt, an dem Menschen Geborgenheit und Ermutigung erfahren. Es hat mich erschüttert, dass es auch als Ort des Missbrauchs identifiziert wurde. Aufgabe muss sein, dass die genannten Werte gelebt werden können, ohne dass Täter einen ‚Schutzraum‘ haben.“ Begegnungen müssten dort stattfinden, wo viele Augen hinschauen, um Missbrauch vorzubeugen.
Nein sagen muss leicht sein
Sophia, ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Jugendarbeit, sprach von den verpflichtenden Schulungen, die mittlerweile für alle kirchlichen Mitarbeitenden eingeführt wurden. „Nein sagen muss leicht sein“, betonte sie und erklärte, wie wichtig es sei, dass in der Jugendarbeit keine Spiele mehr gespielt würden, die körperliche Nähe erzwingen. Dekanin Sabine Hirschmann lobte diese Fortschritte und hob hervor, dass es auch für Dienstvorgesetzte klare Handlungsanweisungen gebe, wie bei Verdachtsfällen vorzugehen sei. „Wir haben keine Ermessensspielräume mehr“, stellte sie fest.
Betroffenen Gehör schenken
Ein besonders wichtiger Aspekt des Abends war der Umgang mit den Betroffenen. Elke Habermeier, Ansprechperson für Betroffene, berichtete von den Aufgaben, die mit ihrem Amt verbunden sind: Menschen, die sich wegen eines Verdachtsfalls oder aus eigener Betroffenheit melden, zu unterstützen und sie unter anderem auch an juristische und psychologische Beratungsstellen zu vermitteln. „Es braucht beides“, sagte sie. „Die Begleitung der Betroffenen und klare Konsequenzen für die Täter.“ Auch Vertreterinnen weltlicher Institutionen wie Maria Schuster vom Weißen Ring und Psychotherapeutin Melanie Becker sowie Svenja Debelius vom Notruf bei sexualisierter Gewalt (SkF Bamberg e.V.) unterstrichen die Wichtigkeit der individuellen Begleitung der Betroffenen: „Sie können die Opfer nicht alleinlassen!“ Hier wurde deutlich, wie wichtig eine Vernetzung zwischen Kirche und weltlichen Beratungsstellen bei Prävention, Intervention und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt ist – zumal Betroffene von sexualisierter Gewalt im kirchlichen Kontext häufig gerade nicht von Vertretern von Kirche begleitet werden wollen, wie die ForuM-Studie gezeigt hat.
Die Forschung ernst nehmen
Zum Abschluss richtete Sabine Wallner einen eindringlichen Appell an die Anwesenden: „Es reicht nicht, nur auf vergangene und aktuelle Vorfälle zu reagieren. Wir müssen die Strukturen und Narrative hinterfragen, die solche Grenzüberschreitungen überhaupt erst möglich machen. Nehmen Sie die Forschung ernst!“ Viele Teilnehmende blieben auch nach der Veranstaltung, um die Diskussion weiterzuführen. Der Auftrag für die Gemeinden lautete klar: „Dranbleiben“ – nicht nur bei der Aufarbeitung, sondern auch bei der Prävention und dem bewussten Hinsehen.
Die ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt ist online verfügbar unter forum-studie.de. Kontakt zur Melde- und Fachstelle bei sexualisierter Gewalt in der Evang.-Luth. Kirche in Bayern erhalten Sie unter aktiv-gegen-missbrauch-elkb.de. Laufend aktuelle Informationen zum Stand der Präventionsarbeit im Dekanat Bamberg finden Sie unter dekanat-bamberg.de/praevention-sexualisierter-gewalt